Jedes Jahr am Ostermontag erinnere ich mich an ein Radtraining das sich ganz anders entwickelt hatte als geplant und gerade deshalb so nachhaltig in Erinnerung geblieben ist. Ein Rückblick.
Da ich im Jahr 2002 auf Mallorca und Lanzarote jeden Straßenabschnitt, Grashalm und Stein kannte, wollte ich etwas Neues erleben und wählte dieses Mal Teneriffa als Trainingslager Destination. Dort hatte ich ein 50-Meter-Schwimmbecken unter freiem Himmel zur Verfügung, bei dem man zumindest in Rückenlage den majestätischen Pico de Teide mit seinem schneebedeckten Gipfel im Blick hatte – und wo man auch wunderbar ohne Neoprenanzug trainieren konnte. Außerdem konnte ich ein sehr gutes Leichtathletikstadion mit 400-Meter-Bahn nutzen und durch eine atemberaubende Landschaft mit einem großen Straßennetz radeln, was das Training sehr kurzweilig gestaltete.
In diesem Trainingslager machte ich einmal mehr die Bekanntschaft mit dem gefürchteten Hungerast und erlebte eine Radausfahrt, die ich bis heute nicht vergessen habe und wohl auch niemals vergessen werde. Zwei Tage vor der Rückkehr nach Deutschland, wollte ich eine lange Tour von 200 Kilometern unternehmen, und dabei von der Nordseite aus über den Teide fahren. Der Aufstieg zu Teneriffas höchstem Gipfel geht quasi ohne Umwege vom Meeresspiegel bis auf 2.200 Meter hinauf und zieht sich knapp 40 Kilometer hin. Wie immer, nahm ich mir für so eine lange Tour genügend Geld mit, um mich an Tankstellen oder Supermärkten zu versorgen, da ich am Rad selbst nur zwei Trinkflaschen mitführte und vollgepackte Trikottaschen hasste. Natürlich hatte ich auch wenigstens einen Energy-Riegel dabei und war wie immer ausgerüstet, um die Fahrt gut überstehen zu können.
Nachdem ich nach den ersten Stunden beide Trinkflaschen fast komplett geleert hatte, wollte ich sie an einer mir bekannten Tankstelle wieder auffüllen. Diese Tankstelle war jedoch geschlossen, genau wie sämtliche Supermärkte des Ortes. Meinen Energy-Riegel hatte ich bereits gegessen und in meinen Flaschen war nur noch ein kleiner Rest Wasser, der für die noch anstehenden 30 Kilometer bis zum Gipfel nicht ausreichen würde. Ich wusste aber, dass ich eine halbe Stunde später noch in einer weiteren kleinen Ortschaft vorbeikommen würde und hoffte, dass dort wenigstens eine Bar geöffnet hätte, in der ich zumindest Baguette, Cola oder einen Fruchtsaft kaufen konnte. Besagte Bar hatte jedoch ebenfalls geschlossen.
Mittlerweile spürte ich auch, dass meine Energiereserven gegen null gingen, da sich, bei einem solchen Anstieg auf über 2.000 Meter Höhe, der Stoffwechsel beschleunigt und der Kalorienverbrauch stark ansteigt. Es war mir klar, dass ich zwangsläufig auf einen Hungerast zufuhr. Von dem Flüssigkeitsmangel, angesichts der zwei leeren Trinkflaschen, einmal ganz zu schweigen. Also versuchte ich, mir meine Kräfte einzuteilen, was bei einem solchen Anstieg natürlich nur sehr schwer möglich ist. Ich hatte bereits den kleinsten Gang eingelegt und unterbrach die Fahrt ab und zu, um meinen Puls wieder zu reduzieren. Es half jedoch alles nichts. Der Hungerast war da und es lagen immer noch zehn Kilometer Anstieg vor mir. Auf einmal sah ich vor mir auf der Straße einen platt gefahrenen Schokoriegel liegen. Ich überlegte ernsthaft, ob ich diesen Riegel, der immer noch einigermaßen verpackt war, jedoch durch das Gewicht eines Autoreifens platt wie eine Flunder dalag, aus dem Teer kratzen und essen sollte. Mein Ekel war jedoch stärker als mein Bedürfnis nach Nahrung und so fuhr ich weiter. Mittlerweile konnte ich mein Rad kaum noch geradeaus halten. Zu allem Überfluss hingen die Wolken recht tief und ich fuhr seit einigen Kilometern durch eine Wolkenwand, die mich auch noch auskühlen ließ.
Als ich aus dieser Nebelbank heraus kam, sah ich eine offensichtlich spanische Familie, die auf einem Parkplatz picknickte. Ich sprach kein Spanisch und sie weder Deutsch noch Englisch, also versuchte ich ihnen mit Handzeichen deutlich zu machen, dass sie mir etwas von ihrem Picknick abgäben, da es mir sehr schlecht ginge. Ich fuchtelte mit einem Geldschein vor ihren Nasen herum und zeigte ihnen meine leeren Trinkflaschen. Glücklicherweise verstanden sie. Allerdings hatten sie an Getränken nur Milch und Rotwein dabei. Milch vertrage ich wegen meiner Lactose-Intoleranz nicht. Hätte ich in diesem Moment davon getrunken, wäre mir übel geworden, ich hätte Magenkrämpfe bekommen und die Fahrt nicht fortsetzen können. Auf Rotwein wollte ich in meinem körperlichen Zustand verständlicherweise auch verzichten. Wasser hatten sie nicht. Das einzige, was sie noch dabei hatten, war Weißbrot, fette spanische Wurst, die sogenannte Chorizo, und Schokolade. Letztere boten sie mir nicht an, weil sie wahrscheinlich dachten, dass ich als Sportler so etwas nicht essen würde. Verzweifelt deutete ich auf die Schokolade, die sie mir schließlich reichten. Ich legte die ganze Tafel, es war eine herkömmliche 100 Gramm Vollmilchsorte, auf ein Stück Baguette, das ich zweigeteilt hatte, und schlang das Ganze vor den ungläubigen Blicken der vierköpfigen Familie herunter. Ich spürte förmlich, wie der Zucker sich in meinem Körper verteilte und es mir schlagartig besser ging.
Sie wollten mein Geld nicht annehmen, aber aus lauter Dankbarkeit legte ich ihnen einen 10 Euro Schein hin, schüttelte ihnen heftig die Hand, stieß ein „God bless you“ hervor und fuhr weiter. Mein Blutzuckerspiegel stabilisierte sich und ich konnte die letzten Kilometer bis zur Spitze des Teide einigermaßen normal weiterfahren. Dort versorgte ich mich noch in einem geöffneten Kiosk mit Wasser und Cola, und konnte so die letzten 60 Kilometer unbeschadet und in normalem Tempo bis zum Hotel zurückfahren.