Mein 3. Weltmeistertitel und das gleichzeitige Karriereende

Da stand ich nun, an einem Sonntag im August 2008. Es waren noch zwei Minuten bis zum Start und normalerweise fühle ich mich in solchen Situationen hoch motiviert, in irgendeiner Form auch aggressiv und hungrig darauf, mich anzustrengen und das Bestmögliche aus mir herauszuholen. Und das in der Regel mit dem Ziel, den Wettkampf zu gewinnen. Heute aber war alles anders.
Hinter dem Namen verbirgt sich nichts anderes, als die Duathlonweltmeisterschaften der Internationalen Triathlon Union über 20 Kilometer Laufen, 80 Kilometer Radfahren und nochmals zehn Kilometer Laufen. Es war meine vierte Altersklassen WM bei Triathlon- und Duathlonwettkämpfen und das Ziel war, zum dritten Mal den Weltmeisterschaftstitel zu erringen.

Das Warm-up verlief ganz genau so wie das Einlaufen am Morgen. Ich fühlte mich schlapp und kraftlos und beschäftigte mich gedanklich mehr mit dem Scheitern als mit einem möglichen Sieg.

Völlig ungewohnt für mich, betrachtete ich jetzt, in den letzten zwei Minuten vor dem Start, mehr und mehr meine Konkurrenten neben mir, als in mir zu ruhen und mich auf mich selbst zu konzentrieren. Dabei stellte ich fest, dass sie hervorragend trainiert und sehr fit aussahen. Normalerweise war meine Gefühlswelt kurz vor dem Startschuss geprägt vom Bewusstsein um die eigene Stärke. Die jetzt empfundenen Selbstzweifel gehörten zu längst vergangenen Zeiten. Der Startschuss ertönte. Bereits nach einem Kilometer war ich weit von der Spitze entfernt. Dabei war das Tempo gar nicht so hoch. Wir waren den ersten Kilometer mit 3:06 Minuten angegangen, eine völlig normale Geschwindigkeit für eine Weltmeisterschaft. Mein eigenes Durchschnittstempo für die erste Laufstrecke hatte ich mir mit 3:08 bis 3:12 Minuten pro Kilometer zurechtgelegt. Das sollte über die 20 Kilometer gerechnet eigentlich ausreichen, um als Erster aufs Rad wechseln zu können. Jetzt war ich aber schon ungefähr auf Rang 30 zurückgefallen konnte mein Tempo aber langsam auf den geplanten Schnitt erhöhen und bei Kilometer 10 war ich an der Spitze des Feldes angekommen. Ich bemerkte zwar, dass ich viel mehr Kraft bei diesem Tempo verschwenden musste, als ich geplant hatte und als ich es gewohnt war, aber das war mir in diesem Moment egal. Ich erhöhte das Tempo so lange, bis keiner meiner Konkurrenten mehr in Schlagdistanz war und war bei Kilometer 15 endlich alleine auf weiter Flur vor meinen Konkurrenten aus den USA, Belgien oder Frankreich. Ich hielt das Tempo bis in die Wechselzone. Man beginnt das Radfahren mit Beinen, die vom ersten Lauf völlig kaputt sind. Das macht den Duathlon so hart. Macht ihn sogar härter als Triathlons, bei denen man nach dem Schwimmen mit recht erholten Beinen aufs Rad steigen kann. Beim ersten Wendepunkt, nach zehn Kilometern, sah ich aber schnell, dass meine Konkurrenten aufgeholt hatten und ich meinen Vorsprung von anderthalb Minuten aus dem ersten Lauf schon eingebüßt hatte. Das war nicht besonders verwunderlich. Ich war alleine an der Spitze im Wind. Vor mir nur zwei Führungsfahrzeuge und hinter mir konnten sich die Konkurrenten zu einem Pulk zusammen schließen. Die Wettkampfleitung hatte zwar Kampfrichter eingesetzt, trotzdem erinnerte mich das Feld hinter mir eher an die Tour de France, als an ein echtes, regelgerechtes Einzelzeitfahren.


Viele Triathleten neigen dazu, das Windschattenfahren der anderen anzuprangern und es als unfair zu bezeichnen – wie ich finde, völlig zu Recht! Nur sollten die gleichen Athleten im Wettkampf dann auch konsequent ihrem eigenen Anspruch gerecht werden und die Regeln der Sportordnung nicht in jeder Situation umgehen, in der sich ihnen die Möglichkeit dazu bietet.

Bei Kilometer 20 war ich schließlich eingeholt und bildete mit meinen Verfolgern eine fünfköpfige Führungsgruppe. Ich konnte das Tempo dieser Gruppe allerdings nicht lange halten und musste die anderen ziehen lassen. Ich war bereits ziemlich am Limit und das nach noch nicht einmal der Hälfte der Radstrecke. Bei Kilometer 40 hatte ich einen Rückstand von zwei Minuten auf die Gruppe. Das konnte ich auf den letzten zehn Kilometern der zweiten Laufstrecke nie und nimmer aufholen, zumindest nicht bei der Form, die ich hier an den Tag legte. Also musste ich alles versuchen, um diesen Rückstand noch auf dem Rad zu verringern und war bei Kilometer 60 an der Führungsgruppe wieder dran. Dort verweilte ich nicht lange, sondern fuhr an ihnen vorbei und brachte so viel Druck auf die Pedale, dass es ihnen schwerfiel, in meinem Windschatten zu bleiben. Ich würde sie aber auf einer Geraden – gegen den Wind – nicht los werden können, das war mir auch klar. Vor dem Ziel blieb nur noch eine Möglichkeit: eine 180-Grad-Kehre bei Kilometer 63. Diese nutzte ich. Ich verschleppte das Tempo vor der Kehre und beschleunigte mit allem, was ich hatte, aus der Kehre hinaus. Und tatsächlich gelang es mir die Gruppe abzuschütteln. Mit deutlich über 40 Stundenkilometern fuhr ich zur zweiten Wechselzone. Was für eine Radzeit hatte ich da gefahren: 1:56:10 Stunden sollten am Ende für die 80 Kilometer stehen! Das war deutlich schneller als der geplante vierziger Schnitt und war mir vorher selten gelungen. Ich war aber auch völlig am Ende. Ich hatte einen guten Vorsprung von fast zwei Minuten herausgefahren und somit ein gewisses Polster. Ich fühlte mich aber hundeelend. Der erste Lauf-Kilometer lag bei über vier Minuten. So etwas hatte ich seit meinen Karriereanfängen nicht mehr auf der Uhr gesehen. Normalerweise lief ich den ersten Kilometer nach dem Radfahren unter 3:10 Minuten. Wenn das so weiterginge, würde die Gruppe mich wieder schnell einholen. Ab dann kann ich aber gar nicht mehr viel zu den verbleibenden Kilometern sagen denn ich habe an diese letzten Kilometer überhaupt keine Erinnerungen mehr. Nur noch an die letzten 200 Meter des Zieleinlaufs. Ich wusste in diesem Moment, dass ich immer noch in Führung lag und meinen dritten Titel erringen würde. Im Ziel fehlte mir beinahe die Kraft, um die Arme hochzureißen. Die übliche Freude des erfolgreichen Finishs blieb aus. Ich realisierte so gerade noch, dass ich als erneuter Weltmeister angekündigt wurde, hörte meinen Namen durch die Lautsprecher.

Nach dem Ziel suchte ich mir die erste Sitzmöglichkeit und saß dort einfach stumm eine Viertelstunde im Zielbereich und dachte mir: „Das war’s. So einen Wettkampf möchte ich nie wieder erleben. Mach Schluss.“

Ich wurde Weltmeister, ein Ziel, auf das ich mich wieder eine ganze Saison vorbereitet hatte. Und jetzt – keine Freude. Nur Erleichterung darüber, dass der Wettkampf vorüber war und der sehnliche Wunsch, nie wieder so eine Anstrengung vollbringen zu müssen. Wieder im Hotel angekommen fühlte ich mich zwar physisch etwas besser, hatte aber ein ganz komisches, unbehagliches Gefühl. War das Rennen heute das, was ich immer wollte? Meine ursprüngliche Intention war Freude am Sport zu haben. Diesen zielgerichtet betreiben, sich immer neue und höhere Ziele setzen, und mit Ehrgeiz und Konsequenz an Wettkämpfe und das Training herangehen. Aber konnte es sein, dass mich ein Wettkampf, den ich sogar als Weltmeister abgeschlossen hatte, ein echtes Erfolgserlebnis, dann nur frustrierte? Sollte der Lohn für so viel Anstrengung und Entbehrung ein solches unbefriedigendes Gefühl nach dem Zieleinlauf sein?
Die Siegerehrung musste ich auslassen. Ich hatte keine Lust, weil ich viel zu erschöpft und mit meinen Gedanken ganz woanders war. Wenn ich mir heute Zuhause die Goldmedaille von diesem Wettkampf anschaue, dann werde ich zeitweise schon etwas traurig. Es wäre im Nachhinein doch schön gewesen, diese bei der Siegerehrung um den Hals gehängt zu bekommen, anstatt sie nachträglich mit der Post zu erhalten. Aber in dem damaligen Moment fühlte ich mich nicht in der Lage dazu, aus heutiger Sicht einfach unglaublich! In diesen Stunden entschloss ich mich, meine Karriere zu beenden.

Auszug aus der Ergebnisliste ITU World Championchips Duathlon Long Distance 2008:

  1. Platz Pyrlik Claudius GER
    Run 1:03:03h | Bike 1:56:10h | Run 0:36:46h | Ziel 3:37:12h
  2. Platz Berland Frederic FRA
    Run 1:04:58h | Bike 1:57:33h | Run 0:35:44h | Ziel 3:39:29h
  3. Platz Prins Marcphilipp NED
    Run 1:07:08h | Bike 2:01:26h | Run 0:35:01h | Ziel 3:44:35h
  4. Platz Dodds Jeremy USA
    Run 1:10:07h | Bike 2:01:39h | Run 0:37:19h | Ziel 3:50:20h
  5. Platz Menchi Stephane FRA
    Run 1:05:24h | Bike 2:05:03h | Run 0:38:04h | Ziel 3:50:25h

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