Ein verlorenes Fußballspiel, eine TV Übertragung, ein Rausschmiss beim ersten Schwimmtraining und eine Odyssee auf dem Rad.

Die Wochenenden während meiner Bundeswehr Grundausbildung verbrachte ich zuhause. Ich war mittlerweile in der 1. Mannschaft eines Fußballvereins im Westerwald angelangt, der mir ein stattliches Spielerhonorar anbot und konnte also erstmals mit Sport Geld verdienen. Eine Tatsache, die mich begeisterte. Allerdings war mein fußballerischer Enthusiasmus zu diesem Zeitpunkt schon deutlich zurück gegangen, denn ich zweifelte mehr und mehr an einer Zukunft im Mannschaftssport. Ein Schlüsselerlebnis war ein wichtiges Spiel, das meine Mannschaft auf keinen Fall verlieren durfte. Dieses Spiel fiel ausgerechnet auf ein Kirmeswochenende und ich wusste, dass ein Großteil meiner Mannschaftskollegen am Vorabend dieses lokale Veranstaltungshighlight besuchen würde. Als damals 19-Jähriger, und neu in der Mannschaft, hatte ich natürlich noch kein großes Standing dort. Trotzdem redete ich beim letzten Training intensiv auf meine Mitspieler ein, dass sie sich nicht zu sehr betrinken sollten, damit wir diese wichtige KO-Partie für uns entscheiden würden. Kaum ausgesprochen, bemerkte ich jedoch bereits, dass mein Plädoyer auf wenig Gegenliebe stieß. Zwar erhielten einige meiner Teamkollegen ebenfalls gutes Geld vom Verein, trotzdem sahen sie Fußball lediglich als Hobby an, für das sie nicht bereit waren, ihre sonstige Freizeitgestaltung in irgendeiner Art einzuschränken.

So kam es, dass am Spieltag von den elf Spielern, die auf dem Platz standen, mehr als die Hälfte die Kirmes bis nachts um vier Uhr besucht hatte. Ich war frühzeitig ins Bett gegangen, hatte bewusst auf Alkohol verzichtet und mich gewissenhaft auf das Spiel vorbereitet – und war dementsprechend eingestellt auf dem Spielfeld erschienen. Bereits während des Warmlaufens berichteten meine Mitspieler jedoch mehr von ihrem vergangenen Kirmesbesuch und den Kopfschmerzen, die sich als Nachwirkung auf den Alkoholkonsum eingestellt hatten, als sich auf die kommende Partie zu konzentrieren. Folgerichtig wurden wir von der Gegenmannschaft regelrecht überrollt und lagen schon nach einer halben Stunde aussichtslos mit 3:0 hinten. Ich war darüber so verärgert, dass ich mich am Ende des Spiels, das wir natürlich haushoch verloren hatten, heftigst mit den Mitspielern anlegte.

Auf der Rückfahrt nach Hause war ich mir sicher, dass es für mich kein Zukunftsmodell war, mich in einer Sportart zu bewegen, in der ich auf zehn weitere Mitspieler angewiesen war und nicht eigenverantwortlich das Bestmögliche aus einem sportlichen Wettkampf herausholen konnte. Pflichtbewusst nahm ich zwar weiterhin am Fußballtraining des Vereins teil, der mich immerhin bezahlte, und absolvierte auch die sonntäglichen Spiele. Die Freiwilligkeit, der Spaß und vor allem der Ehrgeiz nahmen aber von Woche zu Woche ab und ich fühlte mich zunehmend zu einer Individualsportart hingezogen, wie sich das schon in meiner Abiturzeit angedeutet hatte. Also kündigte ich ziemlich bald meinen Vertrag, verzichtete auf alle weiteren Zahlungen und war erst einmal einige Wochen ohne konkrete sportliche Ziele. 

Durch einen Zufall sah ich damals die Übertragung eines Ironman-Wettkampfes auf Hawaii im Fernsehen. Die Bilder, die das Fernsehen zeigte, faszinierten mich. Vor allem die Protagonisten des Spektakels, samt ihrer Spitznamen, Marc Allen (the Grip) und Dave Scott (the Man), beide aus den USA, hatten es mir sofort angetan. Erstmals entstand durch sie ein Vorbild für mich, dem ich nacheifern wollte. Ich erinnerte mich an die Erfahrung meines Volkstriathlons, an dem ich vor knapp zwei Jahren in Selters teilgenommen hatte. Nach kurzer Zeit sah ich in der Sportart Triathlon, und speziell den unbarmherzigen Distanzen des Ironman von 3,8 Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer Radfahren und 42,2 Kilometer Laufen, meine neue Herausforderung. Es war die Chance, etwas zu tun, das andere nicht taten und etwas zu können, das andere nicht konnten. Hatte ich nach meinem ersten Volkstriathlon noch Angst davor, die Leistungsdiskrepanz zu den guten Athleten nicht schließen zu können; und fehlte mir damals die Vorstellungskraft, mich überhaupt auf ein solches Leistungsniveau hieven zu können, so machte ich mir in diesem Moment überhaupt keine Sorgen darüber, den Anforderungen des Triathlonsports nicht gewachsen zu sein. Dazu kam, dass mir vor dem harten Training nicht bange war, sondern ich mich, ganz im Gegenteil, auf einsame Stunden im Wald, auf dem Rad oder im Schwimmbecken freute. Der Entscheidungsprozess, den Triathlonsport aufzunehmen, dauerte eigentlich nur eine einzige, wenn auch schlaflose Nacht. Ich erinnerte mich an vorherige Situationen in meinem Leben und daran, dass ich immer dann, wenn ich mir etwas vorgenommen, mich etwas interessiert oder fasziniert hatte, das auch bewältigen konnte und meine selbst gesteckten Ziele stets erreicht hatte. Also hatte ich auch keine Bedenken oder Zweifel vor der neuen Herausforderung des Triathlons.

Natürlich konnte ich mir in dieser Nacht nicht vorstellen, was mich in dieser Sportart erwartete. Wie sich mein Leben und auch meine Persönlichkeit verändern würden, und welche Einflüsse das auf meine sozialen Beziehungen haben sollte. Ich konnte mir genauso wenig ausmalen, dass die Entscheidung, die ich in dieser Nacht traf, mein Leben bis heute bestimmen und mich nachhaltig prägen sollte. Ängste kannte ich nicht, sondern stellte mir vor, wie es werden würde. Ich freute mich einzig und alleine auf die neue Herausforderung, mein neues Tätigkeitsfeld – und war, vor allem, davon angetan, dass ich dies völlig alleine, ohne eine Gruppe, einen Trainer oder sonstige Unterstützung angehen konnte.

Als ich am nächsten Morgen aufstand, teilte ich meinen Eltern beim Frühstück mit, dass ich nun Triathlet werden würde. Diese Aussage stieß auf keine großen Reaktionen. Ich denke, sie taten mein Vorhaben in diesem Moment aber eher als eine Spinnerei ab. Zum Glück war ich durch mein Bundeswehrgehalt und ein gut gefülltes Sparbuch unabhängig und konnte mein neues Projekt ohne finanzielle Hilfe der Eltern in Angriff nehmen. Nach dem Frühstück fuhr ich direkt nach Limburg zu einem Radhändler und suchte mir ein klassisches Rennrad ohne Zeitfahrequipment sowie Radschuhe, Trikot, Hose, Brille und Fahrradhelm aus. An Flickzeug hatte ich leider nicht gedacht. Da ich bereits gute Laufschuhe besaß, benötigte ich nur noch die Schwimmausrüstung, die glücklicherweise weniger umfangreich, als der aufwendige Materialbedarf für das Radfahren war.

Es sollte noch eine Woche dauern, bis mein Rad fertiggestellt und die Radschuhe in meiner Größe eintreffen würden. Diese Zeit nutzte ich, um mich mit entsprechender Trainingsliteratur zu versorgen und diese quasi auswendig zu lernen. Das Angebot an Fachliteratur war 1995 noch nicht so umfangreich wie heute. Es reichte aber aus, um mir drei Trainingsphilosophien anzueignen und mich letztlich für eine davon zu entscheiden. Wie sich später herausstellen sollte, allerdings für die Falsche. Es wäre für meine sportliche Entwicklung besser gewesen, das Ziel Ironman erst einmal nach hinten zu schieben und mich über kürzere Distanzen, die die Sportart reichlich bietet, Schritt für Schritt dem großen Ziel zu nähern. Das hätte unter anderem den Vorteil gehabt, dass ich mich im Grundschnelligkeitsbereich schneller entwickelt hätte und den technischen und koordinativen Anforderungen, insbesondere im Schwimmen und Laufen, eher gerecht geworden wäre. Da der geschilderte Trainingsansatz aber einen Ironman-Start erst nach vier bis fünf Jahren Trainingsalltag und Wettkämpfen über die Sprint-, Kurz- und Mitteldistanz vorsah, entschied ich mich für die umfangsbetonte Trainingsvariante, bei der die Quantität, also das fleißige Abspulen vieler Trainingskilometer, eine zügige Entwicklung hin zum Ironman-Athleten versprach.

In der gleichen Woche meldete ich mich beim nächstgelegenen Triathlonverein in Elz an, um am Schwimmtraining teilnehmen zu können und den für Wettkämpfe notwendigen Startpass der Deutschen-Triathlon-Union zu erhalten. Letzterer sollte dann in der meiner ersten Zeit als Triathlet im Sichtfenster meines Portmonees exponiert ausgestellt werden. Dort, wo bei anderen im Normalfall ein Bild der Lebenspartnerin oder der Kinder zu finden ist.

Noch bevor ich mein Rad hatte, besuchte ich das erste Schwimmtraining meines neuen Vereins. Damals standen dem Verein zwei Bahnen des örtlichen Hallenbads zur Verfügung. Eine für die Cracks, die ich aus der Zeitung kannte, und von denen drei professionell Triathlon betrieben und richtige Trainingssemester einlegten, um abermals erfolgreich am Ironman in Hawaii teilzunehmen, und eine weitere für die Frauen und Hobbysportler. Ich stellte mich als Neuling vor, der gerne Triathlon machen wolle. Zu allererst stellte man mir die Frage, welche Zeit ich auf 400 Metern schwimmen würde. „Keine Ahnung“, erwiderte ich, „ich bin noch nie 400 Meter auf Zeit geschwommen.“ Ich ging ins Becken, wurde aber bereits nach 200 Metern Einschwimmen unmissverständlich angewiesen, die Bahn zu verlassen, da ich zu schlecht für das Schwimmtraining sei und doch lieber erst einmal vernünftig Schwimmen lernen solle.

 In früheren Jahren wäre ich an so einem vernichtenden Urteil direkt zum Projektstart zerbrochen und hätte die Flinte wohl sofort ins Korn geworfen. Mittlerweile hatte ich aber genügend Selbstvertrauen entwickelt und zog aus diesem Negativerlebnis sehr viel Motivation. Ich dachte: „In Kürze komme ich wieder und schwimme euch allen auf und davon!“ Die Gesichter der Teilnehmer dieses Trainings hatte ich mir genau eingeprägt. Ab und zu braucht man – und insbesondere ich – wohl auch einmal eine Art Feindbild, um sich zu motivieren. Heute komme ich mit besagten Sportlern gut aus und wir pflegen einen herzlichen Umgang miteinander, wenn wir uns begegnen.

Am darauffolgenden Tag konnte ich endlich mein Fahrrad in Empfang nehmen. Die Triathlonaufzeichnung von Hawaii hatte ich mir zuvor auf Video besorgt und konnte mich so nochmals über die Länge der Strecke von 180 Kilometern vergewissern. Also nahm ich mir für meine erste Fahrt die gleiche Strecke als Distanz vor, die ich ja später im Ironman-Wettkampf auch fahren musste. Ich wählte eine Route durch den Westerwald aus, bei der ich nach 90 Kilometern umdrehen wollte, um mich bloß nicht zu verfahren. Bewaffnet mit einer Flasche Wasser, meinem Helm, Brille und natürlich dem Tacho, um zu wissen, wann die Strecke bewältigt wäre, fuhr ich am Wohnort meiner Elternlos – ohne allerdings an etwas Essbares oder Flickzeug zu denken.

Ich startete ohne so richtig zu wissen, was mich da erwartete. Ich war enthusiastisch, hatte mein neues schickes Rad, das damals in den Farben des Cycling Teams „Z“, des dreimaligen Tour de France Siegers Greg LeMond, designt war. Einen tollen, mehrfarbigen Helm und eine coole, glänzende Sonnenbrille. Frohen Mutes fuhr ich in den Westerwald. Hätte meine Mutter mir nicht empfohlen, genügend Geld mitzunehmen, wäre der Tag sicher noch wesentlich schlimmer ausgegangen.

Ich wusste damals nicht, wie schnell man überhaupt fahren sollte. Durch meine Lektüre hatte ich zwar gelernt, dass man sich längere Ausfahrten gut einteilt, hatte aber nicht daran gedacht, dass man sich auch verpflegen musste. Auf so einer, wie von mir geplanten 180 Kilometer langen Tour, die ungefähr acht Stunden dauern sollte, verbraucht ein 70 Kilogramm schwerer Sportler circa 5.500 Kilokalorien, einen Großteil davon in Form von Kohlenhydraten. Da man diesen Bedarf aber nicht eben mal im Organismus gespeichert hat, geht es demnach ohne Kalorienzufuhr während einer solchen Trainingsfahrt nicht. Das sind Facts, die ich damals allerdings nicht kannte. Diese Informationen standen in den Kapiteln meiner Trainingsbücher, die ich anfangs überblättert hatte. Mich interessierte eher die Trainingslehre als die Ernährung. Die ersten 60 Kilometer meiner Trainingsstrecke verliefen auf einfachem Streckenverlauf auch recht gut. Dann, irgendwann, bemerkte ich, dass mir leicht schwindelig wurde. Damals konnte ich das natürlich noch nicht mit abfallendem Blutzuckerspiegel, Glycogenverarmung und dem berühmten Hungerast in Verbindung bringen. Ich dachte: „Jetzt sind es nur noch 30 Kilometer bis zur Wende.“ Dabei merkte ich jedoch gleichzeitig, wie mich meine Kräfte langsam verließen, alles immer schwerer fiel und es mir bei Weitem nicht mehr so viel Spaß machte, wie zu Beginn der Ausfahrt. Zur Sicherheit beschloss ich, nach 70 Kilometern umzudrehen und die fehlenden 40 Kilometer eventuell noch an das Ende anzuhängen. Dies sollte eine der klügsten Entscheidungen meines ganzen Lebens sein!

Schon wenige Meter nach der Wende merkte ich, dass der Wind plötzlich von vorne kam und mir das Treten deutlich schwerer fiel. Von Gegenwind beim Radfahren, der das Fortkommen erheblich erschwert, hatte ich ebenfalls noch nichts gehört. Meine Trinkflasche hatte ich mittlerweile gelehrt und beschloss, das Geld, das ich glücklicherweise in meinem Trikot hatte, gleich in der nächsten Tankstelle teilweise auf den Kopf zu hauen. Ich kaufte mehrere Schokoriegel und füllte meine Flasche mit Wasser auf. Die Pause tat mir gut und ich fuhr weiter. Bereits nach einer halben Stunde fiel ich in die nächste Tankstelle ein und besorgte mir, statt Wasser, eine Literflasche Cola. Ich konnte mich vage daran erinnern, dass Cola viel Zucker enthält und Koffein während des Trainings auch nicht das Schlechteste ist. Die Flasche Cola brachte mich wieder eine halbe Stunde weiter und so setzte sich meine Fahrt fort, bis ich wieder in meinem Startort Niederzeuzheim angekommen war. Glücklicherweise war der Tag sonnig und ich war früh genug losgefahren, sodass ich mit dem Einsetzen der Dunkelheit keine Probleme bekam. Ich weiß heute nicht mehr, wie lange ich genau unterwegs war. Ich weiß aber noch sehr gut, dass ich mir am Ende dieser 140 Kilometer langen Fahrt nicht vorstellen konnte, jemals 180 Kilometer in einem Wettkampf zu fahren. Geschweige denn, danach noch einen Marathon zu laufen und zuvor fast vier Kilometer zu schwimmen.

Als ich zuhause ankam, beobachte meine Mutter mich schmunzelnd. Ich werde ihren Gesichtsausdruck wohl nie vergessen. Ohne zu duschen, stürzte ich an den Herd, kochte mir eine riesige Portion Nudeln und verschlang diese mit Ketchup. Ich vermied es, in größerer Runde von meinem Missgeschick zu erzählen, wie ich es am Anfang generell im Freundeskreis vermied, überhaupt von meinem Vorhaben zu berichten, Triathlet zu werden. Warum ich das nicht tat, kann ich nicht mehr genau sagen. Es hatte wohl mit der Befürchtung zu tun, damit nicht ernst genommen zu werden. Lieber wollte ich nach meinem ersten vernünftigen Wettkampf, wenn ich also schon etwas vorzuweisen hatte, damit öffentlich herausrücken. Das waren also meine zwei ersten Erfahrungen im Triathlon: ein Rausschmiss im Schwimmtraining und eine Odyssee auf dem Rad über 140 Kilometer.

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